Vom Echten, Ehrlichen und der Leidenschaft – ein Rückblick auf die Typo Berlin 2016

Freitag, Juni 10, 2016

Die Typo Berlin 2016 – ein dreitägiger Designkongress mit Expertiseinput unter anderem zu Typografie, Editorialdesign und Illustration. Das diesjährige Motto "Beyond Design" gibt Anlass, über die Designgrenzen hinauszuschauen und über den zukünftigen Designeralltag zu diskutieren. Mit mehr als 70 Talks und rund 1.500 Besuchern gilt sie als bedeutender internationaler Treffpunkt der Kreativszene mit wohlklingenden Namen wie Soundcloud, IBM und BMW Design.

Um einmal mit etwas Kritik zu beginnen: Dieser Status der Typo Berlin 2016 macht sich nicht zuletzt durch den Ticketpreis bemerkbar. Leider findet die große Vielfalt an Talks und Workshops parallel auf fünf Bühnen statt. Hier eine Entscheidung über die zu besuchenden Talks zu treffen, fällt alles andere als leicht. Einziges Trostpflaster: Als Teilnehmer kann man sich die zum Großteil aufgezeichneten Vorträge später online ansehen.

Die große Bühne eröffnete, nach Erik Spiekermanns kurzer Begrüßung, Maria Giudice von Autodesk in San Francisco. Ihr Thema: die Rolle des Gestalters als DEO. Der Design Excecutive Officer – ein Stratege, der kreative sowie unternehmerische Aufgaben löst. Der mit amerikanischem Enthusiasmus vorgetragene Talk zeigt, neben der neuen Berufsbezeichnung, die Herausforderungen, mit denen wahrscheinlich viele kleinere Unternehmen der Designbranche konfrontiert werden und deren Lösung Kreativität, strategisches Denken, Intuition und Leidenschaft erfordert.

Always beta – der zukünftige State-of-mind des Designers?

Jochen Rädecker andererseits hinterfragte in seinem Vortrag den Titel der Konferenz – das wohlmögliche Ende des Designs durch die rapide Technologisierung. Er sieht es wie Hermann Hesse: "Jedem Ende wohnt ein Anfang inne." und benennt mit "Always beta" den zukünftigen State-of-mind des Designers. Im Zeitalter der Digitalisierung sollten wir Algorithmen mit Ideen besiegen, Big Data sichtbar machen und Code mit Content befüllen. Kein Ende, sondern neue Chancen mit Produkten, die nie fertig werden und täglich verbessert werden können.

Die neugierig erwartete Süpergrüp, bestehend aus namhaften Größen der Designszene, versank zum Abschluss des ersten Konferenztages bei einer Art Portfolio-Bingo-Show, leider in einem Nebel der Selbstbeweihräucherung.

Apropos Bingo. Ein Höhepunkt des ersten Konferenztages war der Talk von Mr. Bingo. Trotz mäßigem Bekanntheitsgrad, begeisterte er gleichermaßen Publikum und Typo-Team mit seinem außergewöhnlichen Vortrag über die Finanzierung seiner verrückten Projekte via Crowdfunding und inspirierte mit dem Statement "work for people, not for companies". Welches sich gleich am zweiten Konferenztag bestätigen sollte.

SoundCloud, IBM und Co. lockten natürlich weg von den kleinen Bühnen hinzu der Größten – in die "Hall". Nüchterne Vorträge über die Arbeitsweisen jener, die sich auch für stetiges Wachstum der Designbranche verantwortlich sehen und nicht selten mit "We're hiring" endeten, vergrößerten wiederum die Neugierde auf die kleineren aber feineren Talks.

Selbst Jürgen Siebert warb, nach dem dürftig besuchten, aber durch unsere aktuelle Realität gezeichneten Vortrag von Corinna Sy über die aktive Flüchtlingsfirma "cucula", für die kleinen Bühnen: "Oben ist Berieselung, hier geht es in die Tiefe." "Cucula – Refugees Company for Crafts and Design" ist ein Verein, der als Dach für eine Werkstatt und ein Bildungsprogramm fungiert. Den Initiatoren geht es ums Handeln. Sie wollen nicht nur etwas "für" sie tun, sondern "mit" den Geflüchteten arbeiten. Und so werden DIY-Möbel des italienischen Designers Enzo Mari, die er als Kritik gegen die Konsumgesellschaft verstand, von "den Jungs" (fünf afrikanische Geflüchtete) selbst hergestellt. Der Erlös aus dem Verkauf der Werkstücke soll zur Finanzierung des Lebensunterhalts und der Ausbildung der Geflüchteten dienen. Lars Harmsen (Süpergrüp) sagte dazu treffend: "Ich habe immer nach Projekten im Design gesucht, die wirklich helfen können – mit denen man etwas verändern kann. Cucula ist mit Sicherheit eines dieser sinnstiftenden Projekte."

Auch Jürgen Siebert sollte Recht behalten. Der Illustrator Sebastian Lörscher klickt sich nicht durch sein beeindruckendes Portfolio wie manch namhafter Gast auf der großen Bühne, sondern erfrischt sein Publikum mit einer kabaretthaften Vorstellung und illustriert, wie man sich Freunde in fernen Ländern ganz ohne Sprachkenntnisse macht: mit dem Zeichenstift. Lörscher zeigt mit seiner Herangehensweise im digititalen Zeitalter von Facebook, Instagram und Co. wie man sich das Vertrauen seiner Mitmenschen erzeichnet und nicht durch schnelle Schnappschüsse gar missbraucht.

Nicht nur sein Grinsen, was er bat zu entschuldigen, zeugte von Erik Marinovichs Leidenschaft für seine Sache. Als Designer und Lettering Artist aus San Francisco, inspirierte er eindrucksvoll das Publikum. Er brach die Anatomie des Hiphops auf fünf Kapitel herunter und illustrierte, wie diese seine Arbeit und das Leben im Allgemeinen beeinflussen.

"Entschuldigung, wo finde ich Haltung und Ethik?"

Im Laufe der Konferenz wurde oft über Haltung und Ethik gesprochen. Leider wurde diese dann schon beim Freibier und der Gratis-Bratwurst gänzlich vernachlässigt. Neben mit Buchstaben-Etikett überklebten grünen Flaschen eines populären deutschen Brauers und Würsten, die gänzlich nach nichts schmeckten, zelebrierte das Publikum seine Anwesenheit. Aber gemäß dem Motto "Beyond Design" wäre doch auch gerade hier, bei unseren Lebensmitteln, etwas Haltung und Ethik angebracht gewesen. Zumal es in Berlin eine kreative Craftbier-Szene und nachhaltig agierende Metzger gibt – diese spiegeln nämlich genau den Habitus dieser Konferenz wider: kreativ, handwerklich und mit Leidenschaft für unsere Zukunft.

Eines wurde jedoch erfolgreich ins Bewusstsein gerufen – die Wertschätzung der kleineren und dennoch wichtigen Dinge, dem Echten und Ehrlichen sowie der Leidenschaft. Dinge, die eben doch allzu gern in unserem schnelllebigen, digitalen Höher-Schneller-Weiter-Alltag untergehen.


Autor: Tony Walther